Unser Gast heute ist Bärbel Boy, die Geschäftsführerin bei Boy Strategie und Kommunikation. Mit ihr sprechen wir über Strategieentwicklung in Zeitenwenden.
Unser Gast heute ist Bärbel Boy, die Geschäftsführerin bei Boy Strategie und Kommunikation. Mit ihr sprechen wir über Strategieentwicklung in Zeitenwenden.
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Frau Boy, Sie beraten seit mehr als 20 Jahren Unternehmen und Institutionen. Um zunächst ein wenig in das Thema einzusteigen: Welche Veränderungen am Markt konnten Sie beobachten?
Bärbel Boy: Tatsächlich, da ich hauptsächlich strategisch berate, zwei wesentliche Veränderungen. Zum einen ist die Banalität von Strategien, die es in Unternehmen gibt, gestiegen und gleichzeitig auch die Orientierungslosigkeit der Mitarbeitenden und daher diese Nachfrage – die Sehnsucht danach, dass man etwas in die Hand bekommt, was einem eine ganz klare Richtungsweisung gibt und sagt, das wird tatsächlich passieren. Also die Sehnsucht nach Gewissheit. Das ist etwas, was ich ganz stark beobachten konnte. Und diese Veränderungen führen gerne zu der Auffassung, dass viele mit Modellen arbeiten, die ihnen zwar nicht wirklich dienlich sind, jedoch aufgrund der Unkenntnis von möglichen Alternativen trotzdem genutzt werden. Dies führt wiederum zur Erkenntnis, das Ergebnis wäre von keiner Relevanz und zu dem Gefühl, Strategie sei etwas Bedeutungsloses, eine Rechtfertigung für Führungskräfte, im Alltag jedoch nicht präsent. Das ist die eine Entwicklung. Die andere ist, dass, immer wieder neue Strategien von der Führung implementiert werden, weil die vorherige nicht zielführend war, sodass die Mitarbeiterschaft sich denkt: „Da scheucht jetzt mal wieder jemand eine neue Sau durchs Dorf und was schert mich das? Ich bleibe einfach in meinem Alltag und es hat für mich sowieso keine Relevanz, was meinen Alltag angeht“. Das heißt, sie werden strategiemüde.
Und wenn nun jemand mit einer ganz hervorragenden neuen Strategie ankäme, würde sie gar keinen großen Anklang mehr finden, weil man davon ausgeht, dass diese demnächst wieder abgelöst wird.
Die Weiterentwicklung, in der wir uns zurzeit befinden, die Zeit der Digitalisierung, des technischen Fortschritts, bringt uns natürlich sehr viel Innovation, jedoch auch Schnelllebigkeit. Und wie Sie es ein wenig beschrieben haben, man hat das Gefühl, die Strategien veralten – und das sehr schnell. Wie entwickelt man nun in unserer volatilen Welt eine sinnvolle Strategie?
Bärbel Boy: Zunächst braucht man ein anderes Verständnis von Strategie. Wir kommen aus einer Zeit – diese mag zwar schon ein ganzes Stück weit zurückliegen, doch ist sie noch in den Lehrbüchern zu finden – in der man dachte, man könne Strategien auf der Basis von ganz vielen Daten weit in die Zukunft entwickeln, und bei hartnäckiger Durchsetzung würde das auch funktionieren. Dann stellte man fest, es gibt doch ein paar Dinge, die sich verändern. Darauf folgte die Überlegung, wie man damit umgeht. Aber man hatte immer noch das Verständnis – ich drück es jetzt sehr platt aus – von Strategie als einen Plan, den man abarbeitet und erfüllt. Dementsprechend benötigen wir, so denke ich, ein neues Strategieverständnis, das eine Strategie mehr als eine Art Kompass versteht. Hier möchte ich hin. Ich weiß noch nicht ganz genau, wie ich da hinkomme und ich weiß auch nicht ganz genau, ob ich da wirklich ankomme. Aber ich fahre jetzt los, damit ich eine Richtung habe und auf dem Weg dahin bin ich offen. Wenn ich mit diesem Ziel, welches ich mir gesetzt habe, korrelierende gute Chancen finde, ergreife ich diese auch.
Wenn ich dieses Verständnis habe, dann ist natürlich eine Strategie mehr so eine Art Entscheidungsprinzip. Oder es ist vielmehr eine grundsätzliche Ausrichtung als ein Plan, den ich ganz konkret mit messbaren Zahlen und immer sofort umsetzen muss. Es gibt Organisationen, die wünschen sich jedoch dieses ganz Genaue und nur Organisationen, die es schaffen, von diesem ganz Genauen auf das Prinzipielle umzuschwenken, die werden frei genug sein, die sich ihnen in einer solch volatilen Welt bietenden Chancen wahrzunehmen und für sich zu nutzen.
Sie haben einen etwas anderen Ansatz, denn Sie orientieren sich in Ihrer Arbeit unter anderem an Strategiepapst Henry Münzberg, der Unternehmensstrategien als eine Art Fluss skizziert. Was können wir uns unter diesem Bild vorstellen?
Bärbel Boy: Ja, das ist ganz schnell erzählt und dann natürlich auch die Weiterentwicklung, die es braucht. Tatsächlich hat Henry Münzberg mit dem Fluss Bild immerhin schon aufgezeigt, dass sich da etwas bewegt und dass es einfließende Themen gibt, mit denen ich mich als Organisation auseinandersetzen muss und dass es auch abfließende, nicht realisierte Ziele gibt, von denen ich sage, die werfe ich über Bord oder die lasse ich hinter mir, weil diese mit den neuen Zusammenhängen keinen Sinn mehr ergeben. Allerdings ist das, was er entwickelt hat, immer noch dieses wunderbare Flussbett. Und da geht es so gemächlich in eine bestimmte Richtung. Wir leben jedoch mittlerweile in einer Zeit, in der man, so denke ich, durchaus sagen kann: Dieses Bild braucht eine Veränderung. Es geht vom beschaulichen Fluss aufs offene Meer. So wie es verschiedene Orte auf unserer Erde gibt, wo Flüsse ins Meer oder in den Ozean münden, benötigt man für eine Schifffahrt auch entsprechend anders ausgerichtete Boote, die dann auf aufs offene Meer hinausfahren können. Sie haben eine andere Technik.
Und ich glaube, dass wir auch für Strategien eine andere Herangehensweise brauchen, wenn wir uns in solchen Zeitenwenden befinden. Und wenn wir uns das Beispiel mit dem Fluss wieder heranziehen, gibt es die zwei Flussbetten und es ist relativ klar, dass es lediglich zwei Richtungen gibt: mit oder gegen die Flussrichtung. Wenn sie aufs offene Meer gehen, dann fallen ihnen Dinge wie Leuchttürme, Lotzen, Kompass ein. Es gibt viele Dinge, die dabei helfen sollen, die Orientierung zu behalten, weil die Richtung nicht mehr deutlich erkennbar ist. Und ich denke, in genau solch einer Situation befinden wir uns aktuell. In Bezug darauf, was ich anfangs beschrieben habe, führt dies auch zu den Veränderungen, welche die Menschen auf der einen Seite orientierungslos fühlen lassen und auf der anderen Seite unter den Bedingungen des alten Strategieverständnisses leiden, da diese schlichtweg nicht mehr zeitgemäß sind.
Vielen Dank, dass Sie diesem Bild etwas mehr Leben eingehaucht haben. Es ist sehr anschaulich und leicht verständlich. Um unsere Leser jedoch noch weiter abzuholen, können Sie uns vielleicht noch einige konkrete Beispiele nennen?
Bärbel Boy: Gern. ich nehme mal ein ganz klassisches Beispiel, was wir auch alle gerade gut vor Augen haben: Das 9-Euro-Ticket und die anschließende Fortführung mit dem Deutschland-Ticket. Hier müssen Sie sich vorstellen, waren lauter Unternehmen und Verbünde involviert, die dafür zuständig waren, ganz viele verschiedene Tarife zu verwalten und Ausgleichszahlungen zu managen. Und wir als Nutzerinnen hatten alle das Gefühl, stets vorher nachzusehen, damit man weiß, mit welchem komplizierten Ticket man dann vielleicht fahren kann. Mit einem Mal kam dann einer und sagte:“ Hier bekommst du ein Ticket, welches 9 Euro kostet und damit kannst du den ganzen Monat im Nahverkehr fahren“. Das ist eine wirkliche Wende gewesen, weil diese Wende Organisationen, die hauptsächlich für Tarife und auch Tarifkommunikation zuständig waren, vor die Frage stellte: „Was ist denn jetzt unsere Aufgabe?“ Andererseits bildet dieses Ticket zugleich eine Zeitwende für alle Kunden und Nutzer/-innen, weil sie sich wiederum Fragen in Bezug auf Nutzbarkeit und der Häufigkeit der Nutzung stellten. In solch einer Situation, in der wir uns momentan befinden, und das Ganze ist ja im Dienste der Mobilitätswende eingeführt worden, wirken Maßnahmen dieser Art durchaus sehr einschneidend.
Das hätte keine gemächliche Strategie voraussehen können, sondern hier ist es tatsächlich der Übergang in den Ozean gewesen, der jetzt aufbauend auf dem 9-Euro-Ticket fortgeführt mit dem Deutschland-Ticket, auf dem Weg ist in ein völlig neues Businessmodell Nahverkehr. Ich hoffe, es ist ein gutes Beispiel. Ein weiteres Beispiel ist das ganze Thema Fachkräfte. Also die Rekrutierung von Fachkräften hat sich damit, dass sich dieser Markt so sehr in einen Käufermarkt umgewandelt hat, ja komplett verändert. Da stehen die ganzen Organisationen, die einstellen wollen, da und wirken leicht verloren auf der Suche nach dem Leuchtturm, der ihnen die Richtung weist, um voranzukommen.
Die Implementierung einer neuen Strategie sollte sich bestenfalls in irgendeiner Art messen lassen. Welche Zahlen und Daten sind denn Ihrer Meinung nach die wichtigsten für die Bewertung, ob denn eine neue Strategie letztendlich erfolgreich war oder nicht?
Bärbel Boy: Das ist eine spannende Frage, weil ich ja gerade gesagt habe, dass das mit den Zahlen vielleicht nicht die beste Grundlage ist. Und trotzdem wollen Unternehmer und Unternehmerinnen natürlich wissen: Was habe ich denn von dieser neuen Art von Strategie? Und ich glaube, erfolgreich ist eine Strategie dann, wenn wir im Unternehmen eine höhere Sicherheit der Leute feststellen können und sie deswegen entscheidungsfreudiger und selbstständiger sind. Das ist durchaus messbar. Eine Strategie ist auch dann erfolgreich, wenn sie dazu führt, dass eine höhere Flexibilität im Umgang mit Unvorhergesehenem da ist. Das heißt, dass Unvorhergesehenes nicht unmittelbar zu Lähmungen führt. Eine erfolgreiche Strategie ist auch dann gegeben, wenn die Mitarbeitenden diese selbst verinnerlicht haben und bei Bedarf an sie erinnern sowie „das Boot wieder in die richtige Richtung lenken“ können. Wenn die Strategie es ins Gedankengut, vielleicht sogar in die Herzen, der Belegschaft geschafft hat und ihr Handeln prägt, ist in jedem Fall die Strategie als erfolgreich anzusehen. Ich denke, wenn eine Strategie es schafft, eine Haltungsveränderung im Unternehmen zu bewirken, damit zum Beispiel auch Bürokratieabbau, höhere Verantwortungsbereitschaft, dann ist sie wirklich erfolgreich und dann ist sie ausgerichtet auf die Herausforderungen der Zeit, in der wir aktuell leben. Und solche Strategien nenne ich neue Strategien.
Frau Boy, ich finde das ist ein wundervoller Abschluss von unserem Interview. Vielen Dank für dieses anregende Gespräch.