Das Konzept der Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) gilt als Wirtschaftsmodell der Zukunft. Können Sie uns dieses Modell genauer erklären?
Dr. Jan Wehinger: Es ist ganz simpel: Wir müssen nur auf die natürlichen Prozesse unserer Umwelt schauen. In der Natur finden wir keine Abfälle. Am Ende eines Prozesses ist jeder Stoff der Ausgangspunkt für einen neuen Kreislauf. Genau diesen Ansatz verfolgt die Circular Economy. Statt nicht mehr funktionierende Produkte zu entsorgen, werden die Materialien immer wieder verwendet. So entsteht ein in sich geschlossener Materialkreislauf. Das ist eine fundamentale Richtungsänderung weg vom aktuellen, linearen Wirtschaftssystem. Ein zentraler Aspekt der Kreislaufwirtschaft ist, bei der Entwicklung von Produkten und Materialien deren gesamte Lebenszyklen mitzudenken. Nur so kann die Lebenszeit und Materialeffizienz maximal gesteigert werden. Ganz nebenbei ergeben sich durch den Circular-Economy-Ansatz komplett neue ökonomische Möglichkeiten: Abfall bekommt nicht nur einen Wert – durch lange Produktlebenszyklen und „As-a-Service“-Geschäftsmodelle werden ebenso regelmäßig wiederkehrende Umsätze entlang der Lebenszeit eines Produktes möglich. Ganz im Gegensatz zu heute: Da wird oftmals nur einmal am Point of Sale Umsatz generiert. Zukünftig wird es gerade im Recycling noch interessanter und es gilt die Fragen zu klären, wie aufwendig es sein wird, Produkte am Ende des Lebenszyklus wieder zu zerlegen. Und wer diese Aufgabe übernehmen und davon profitieren wird.
Immer wieder bekommt man zu hören, dass die lineare Wirtschaft ausgedient hat. Wie schätzen Sie das ein?
Dr. Jan Wehinger: Ja, absolut. Unternehmerisches Handeln basiert immer mehr auf der „Licence to Operate“, also der gesellschaftlichen Akzeptanz. In Zukunft hängt wirtschaftlicher Erfolg zunehmend davon ab, wie gut die ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen in Einklang gebracht werden. Stichwort: Triple Bottom Line. Zum einen stellt der Klimawandel Unternehmen auf der ganzen Welt vor einen enormen Transformationsdruck. Zum anderen steigt auch auf sozialer Ebene der Handlungsbedarf: Kunden, Regularien und Gesellschaften haben immer höhere Anforderungen an nachhaltige Produkte und Services. Aber auch rein ökonomisch funktioniert ein „weiter so“ nicht mehr. Es mangelt an Primärrohstoffe, die Rohstoffpreise steigen, Lieferketten geraten ins Stocken – all das erhöht die operativen Risiken. Es gibt klare Anreize für einen Switch zur Kreislaufwirtschaft: Durch zirkuläre und „As-a-Service-Geschäftsmodelle wie Ride- oder Car-Sharing-Services haben Unternehmen beispielsweise die Möglichkeit, völlig neue Kundengruppen zu gewinnen. Und gegen die Preisschwankungen im Rohstoffmarkt sind die Re-Use-Ansätze der Circular Economy eine vielversprechende Alternative. Eines ist klar: Nachhaltigkeit ist ein klarer Business Case.
Das Wirtschaftsmodell Circular Economy wird immer als nachhaltig betitelt. Auf welche Weise fördert sie die Ressourcenschonung und wie erhöht sie die Wertschöpfung?
Dr. Jan Wehinger: Wie gesagt, Nachhaltigkeit wirkt in drei Dimensionen. Zirkuläre Geschäftsmodelle verbessern dabei immer mindestens eine Dimension – und das ohne die anderen schlechter zu stellen. Bei Unternehmen hat das bereits deutliche Effekte. Zugleich ist der Circular-Economy-Ansatz ein großer Innovationstreiber. Wenn Unternehmen darüber nachdenken, wie sie ihre Prozesse nachhaltig zu einem Kreislauf umbauen, stößt das starke Transformationskräfte und ökonomische Potenziale, auch über die eigenen Unternehmensgrenzen hinweg, an. All das hat auch Impact auf die Wertschöpfung: Durch „Everything-as-a-Service“-Modelle ergeben sich neue Geschäftsfelder und Kundensegmente. Parallel lassen sich durch einen effizienteren Ressourceneinsatz Kosten und Emissionen reduzieren – bei künftig weiter steigenden Preisen für Primärrohstoffen und CO2-Abgaben ist das ein entscheidender Wettbewerbsfaktor.
Die Liste an Einsatzmöglichkeiten des Modells ist lang. Wie können Unternehmen die Circular Economy integrieren?
Dr. Jan Wehinger: Wer ganzheitlich zirkulär und emissionsfrei Wirtschaften möchte, sollte sein gesamtes Operating Model nachhaltig ausrichten – und zwar über die Dimensionen Business Model, Produkte & Services, Prozesse, Daten und Organisation hinweg. Diese Ausrichtung berücksichtigt auch die Triple Bottom Line aus ökonomischer, ökologischer und sozialer Dimension. Bei MHP haben wir ein eigenes Sustainable Operating Model entwickelt, was einen prototypischen Kreislauf aufzeigt. Für uns die Grundlage, um langfristig die Licence to Operate zu erhalten und weiterauszubauen. Ein konkretes Beispiel: Bei E-Autos ist die Batterie das Herzstück. Für deren Herstellung sind jedoch große Mengen an teilweise seltenen Rohstoffen nötig. Wenn wir es schaffen, einen neuen Batterie-Kreislauf zu etablieren, bei dem ausrangierte Auto-Batterien erst repariert, später als mobile Stromspeicher für Solar-Anlagen zweitverwertet und am Schluss komplett recycelt werden, um neue Batterien zu produzieren, wird die gesamte Elektromobilität noch nachhaltiger. Ich bin überzeugt, dass sich in jedem Unternehmen derartige Kreisläufe aufbauen lassen.
Know-how, Fördermöglichkeiten und Praxisanwendungen unterstützen die Umsetzung von zirkulären Wirtschaften in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Welche Chancen bietet das vor allem für KMU und wie können diese von dem Wirtschaftsmodell profitieren?
Dr. Jan Wehinger: Einige Chancen habe ich bereits angesprochen: Es lassen sich neue Kundensegmente und Value-Streams erschließen. Zum Beispiel, indem Abfall als wichtiger Teil der Wertschöpfung verstanden wird, oder indem sich innerhalb eines neuen Kreislaufs neue Geschäftsmodelle ergeben. Das ist aber längst nicht alles: Unternehmen, die ihre Prozesse sowie Produkte nachhaltiger und transparenter gestalten, sichern sich deutliche Wettbewerbsvorteile. Digitale Produktpässe können beispielsweise das Vertrauen bei Kunden erhöhen. Dabei sollte eines nicht vergessen werden: Wir agieren alle in Ökosystemen. Umso wichtiger für den wirtschaftlichen Erfolg einer Circular Economy ist die Bereitschaft, unternehmensübergreifend mit anderen Partnern zu kooperieren. Über die gesamte Wertschöpfungskette. Ich finde, gerade KMU haben hier einen Gestaltungsauftrag – umgekehrt können sie davon enorm profitieren. Ein zentraler Enabler dabei sind Daten. Besonders KMU sind wesentlich in die Wertschöpfungsketten der Ökosysteme eingebunden, oft zu Beginn einer Kette. Insofern sind die Digitalisierung und Bereitstellung von Daten ein Muss. Daraus ergeben sich aber zusätzlich vielfältige Cross-Potenziale. Und durch digitale, zirkuläre Prozesse erhalten KMU obendrein die Möglichkeit, Felddaten ihrer Produkte zu generieren – damit können Produkte und Services noch gezielter weiterentwickelt und optimiert werden.
Viele denken, dass Nachhaltigkeit immer an einen hohen Preis geknüpft ist. Wie wird die Circular Economy finanziert und ist das Stigma, dass Nachhaltigkeit hohe Kosten mit sich bringt, wirklich wahr?
Dr. Jan Wehinger: Die Transformation zur Nachhaltigkeit ist mit hohen Investitionskosten verbunden – das stimmt. Aber die Potenziale sind um ein Vielfaches höher. Die Circular Economy finanziert sich quasi selbst – einmal durch den Erfolg der neuen Geschäftsmodelle, zum anderen durch die Verminderung von operativen Risiken.