Künstliche Intelligenz und Automatisierung in der Versicherungsbranche

Interview mit Philipp Eder
Ich denke, wir müssen eine echte Chancengleichheit auch durch den Gesetzgeber bekommen. Die Rechtsschutzversicherungen sind doppelt – nämlich durch Regulatorik im Bereich des Versicherungsrechts und durch Reglementierungen im Bereich des Rechtswesens – limitiert. Es gibt durchaus feindliche Geschäftsmodelle im Bereich des LegalTechs, die Rechtsschutzversicherungen als verlässliche Kostenerstatter „aus“nutzen, jedoch nicht immer mit dem entsprechenden Mehrwert für die Kunden.

Wir sprechen heute mit Rechtsanwalt Philipp Eder über KI in der Versicherungsbranche. Der Versicherungsexperte teilt in diesem Interview seine persönliche Meinung.

 

Herr Eder, die digitale Transformation hat bereits viele Branchen grundlegend verändert. Wie sehen Sie die langfristigen Auswirkungen der Digitalisierung? Welche Technologien werden Ihrer Meinung nach am stärksten beeinflussen?

 

Gerne antworte ich auf Ihre Fragen mit meinem Erfahrungshintergrund über Funktionen in der Versicherungswirtschaft im Bereich Rechtsschutz und der Anwaltschaft. Wo die Reise hingehen wird, lässt sich sicher noch gar nicht absehen. Die Rahmenbedingungen müssen stabil bleiben. D.h. politisch und ökonomisch. Nicht zu vergessen, dass die Digitalisierung – und wir sprechen hier ja vor allem von GenAI als neue Dimension – einen immensen im Grund noch nicht gelösten Energiebedarf hat. Wir werden die Auswirkungen für die nächsten zwei bis drei Jahre vielleicht sogar überschätzen, aber in zehn Jahren viele Teile unserer Berufs- und Privatwelt nicht mehr wiedererkennen, wenn die Entwicklung ungebremst weitergeht und KI-Lösungen und KI-Anwendungen unser Leben überall flankieren oder sogar bestimmen werden. Rund um den Bereich Recht werden die Large Language Modelle die zentrale Rolle spielen. Ergänzt und erweitert durch andere Tools aus dem Bereich der GenAI. Es wird neue Wahrnehmungsdimensionen geben, Wort – Bild Variationen oder auch im Hinblick auf das Internet der Dinge. Warum verspricht z.B. ChatGPT eine nachhaltige und revolutionierende Wirkung im Umfeld von Recht? Weil sich Large Language Modelle der Sprache bedienen und Sprache das Betriebssystem der Menschheit ist. Es gibt also keinen besseren Code, um alle Strukturen und Wechselbeziehungen, Definitionen und Wahrnehmungen zu beschreiben.

 

Künstliche Intelligenz und Automatisierung werden immer häufiger in der Versicherungsbranche eingesetzt. Inwieweit kann der Einsatz von KI den Kundenservice und die Schadensbearbeitung bei Rechtsschutzversicherungen verbessern? Wo sehen Sie hier Chancen oder auch Risiken?

 

Da die unternehmensinternen Abläufe bei Versicherungen im Hinblick auf Abschluss und die Regulierung von Fällen auch Rechtscharakter haben, gelten die Annahmen von oben zur Einbindung von z.B. ChatGPT auch hier. Rechtsschutzpolicen sind zunächst Versicherungsverträge, die das Leistungsversprechen definieren. Konkrete Leistungsfälle sind hiermit in Abgleich zu bringen, um über Deckungsschutz und dessen Umfang entscheiden zu können. Wir werden deshalb einen hohen Grad an Automatisierung erreichen. Im Hinblick auf die Produktgestaltung und Produktindividualisierung, aber auch bei der Abwicklung und Begleitung von Kundenanliegen, insbesondere im Leistungsfall.

Das wird zum einen eine neue Dimension von Passgenauigkeit für individualisierte Kundenlösungen ermöglichen, zum anderen in allen Bereichen der Wertschöpfung zu einem Tempogewinn führen, der aus Kundensicht natürlich nur Vorteile mit sich bringt. Eine große Herausforderung wird sein, das Vertrauen der Menschen für diese Anwendungen zu gewinnen. Gerade in Deutschland sind viele skeptisch. Das Recht auf informationelle Sicherheit wird in unserem Kulturkreis aus guten Gründen sehr hochgehalten. Hier müssen die höchsten Standards gelten, um letztlich auch den Datenschatz aller Akteure rund um die Ökosysteme heben und nutzen zu können. Gleichwohl empfehle ich dringend, hier mehr in Chancen als in Risiken zu denken.  Gerne verweise ich zur Vertiefung auf ein von mir verfasstes Kapitel im Rechtshandbuch ChatGPT, das im zurückliegenden Sommer erschienen ist.

 

Der demographische Wandel in Deutschland führt zu einer alternden Bevölkerung. Wie wird dieser Wandel die Nachfrage nach Versicherungsprodukten beeinflussen? Welche speziellen Bedürfnisse haben ältere Versicherungsnehmer?

 

Zunächst einmal wird der inländische Markt im Hinblick auf potenzielle Kunden kleiner werden. Das heißt, der Wettbewerb wird steigen, weil es am Schluss nicht nur über bessere Kundenbindung und ökonomische Vertiefung verbleibender und bestehender Kundenbeziehungen zu einer Kompensation des wegfallenden Potenzials für Abschlüsse kommen kann. In einer Zeit von großer Unsicherheit, die zumindest über die allgegenwärtige mediale Wahrnehmung stark in unser Alltagsbewusstsein hineinwirkt, sind Versicherungen wichtiger denn je. Dies gilt in einer immer komplexer und unverständlicher werdenden Welt der Regeln und bürokratischen Anforderungen auch für die Rechtsschutzversicherung. Ich gehe deshalb davon aus, dass die klassischen Produkte ihre Relevanz behalten werden. Es wird aber vermehrt flexibleren, dynamischeren und auf ganz bestimmte Lebenssituationen ausgerichteten Versicherungsschutz in neuen Produktwelten geben, um die Bedarfe zu befriedigen. Z.T. eingebettet in die die Bedarfe der Lebenswelten z.B. des Alters, also rund um Pflege, Wohnen im Alter oder eben auch rechtliche Sicherheit.

 

Durch die digitale Transformation entstehen neue Zielgruppen, insbesondere jüngere, technikaffine Menschen. Wie können diese digital-nativen Zielgruppen erreicht werden? Sind auch hier neue Produkte oder digitale Services sinnvoll?

 

Von den unter 25-Jährigen nutzen dreiviertel ihre Smartfons nicht mehr zum Telefonieren. Diese Gruppe sind die Kunden von morgen, müssen aber heute bereits erreicht werden. Die Relevanz, Versicherungen abzuschließen steigt, wenn man die berufliche Laufbahn, die eigene Firma, die Familie oder den Besitz sichern muss. Das ist meistens in der Rushhour des Lebens der Fall, also irgendwann in den 30er Jahren des Lebens. Mithilfe digitaler Medien und über Multiplikatoren aus den jeweiligen Lebenswelten der jungen Generation, also z.B. Influencern muss man sich den Zugang erschließen. Und es braucht eine ganz neue Ansprache, um als attraktiv wahrgenommen zu werden. Auch hier glaube ich, dass in einer zweiten Phase nach Vereinheitlichung und Skalierung der Prozesse mithilfe von GenAI, die wir gerade durchlaufen, hyperindividualisierte Produkte ein Schlüssel sein werden. Produkte, die ganz nah am Alltag der jungen Menschen und über den begleitenden Konsum erworben werden können. Die vollständige digitale Bereitstellung aller Angebote und Services ist hier ein „Muss“.

 

Der Wettbewerb im Versicherungssektor verschärft sich, insbesondere durch InsurTechs und neue Marktteilnehmer. Wie schätzen Sie die zukünftigen Marktbedingungen für traditionelle Rechtsschutzversicherungen ein? Wird sich der Wettbewerbsdruck durch die digitale Transformation weiter verstärken?

 

Ich denke, wir müssen eine echte Chancengleichheit auch durch den Gesetzgeber bekommen. Die Rechtsschutzversicherungen sind doppelt – nämlich durch Regulatorik im Bereich des Versicherungsrechts und durch Reglementierungen im Bereich des Rechtswesens – limitiert. Es gibt durchaus feindliche Geschäftsmodelle im Bereich des LegalTechs, die Rechtsschutzversicherungen als verlässliche Kostenerstatter „aus“nutzen, jedoch nicht immer mit dem entsprechenden Mehrwert für die Kunden. Zudem gibt es Tendenzen, Modelle zu entwickeln, die Rechtsschutzversicherungen aus Kundensicht überflüssig erscheinen lassen sollen. Diese Modelle bedienen sich immer einer Integration anwaltlicher Dienstleistung in die Wertschöpfung, die Versicherern gänzlich verwehrt ist. Ich plädiere deshalb regelmäßig dafür, dass man die Handlungsspielräume für Rechtsschutzversicherer öffnen sollte, z.B. im Hinblick auf rechtliche Beratung oder Vertretung der Kunden. Diese sind in nahezu allen unseren Nachbarländern teils weitläufig erlaubt. So können die Rechtsservices unserer Schweizer Schwestergesellschaft als eine Art Anwaltskanzlei 85-90% aller rechtlichen Kundenanliegen durch eigene anwaltlich tätige Mitarbeitende erledigen. Der Rechtsstaat scheint dadurch nicht gefährdet zu sein. Zudem sollte man das Thema Fremdbeteiligungsverbot an Kanzleien kritisch hinterfragen. Gerade die Tatsache, dass die Anwaltschaft mit Ausnahme der LawFirms nicht über die Budgets und Mittel verfügt, die Kosten der digitalen Transformation zu schultern, besteht hier sogar ein wechselseitig dringendes Interesse. Wenn diese Forderungen erfüllt sind, können wir konkurrenzfähig Geschäftsmodelle für die Zukunft bauen und dem zunehmenden Wettbewerbsdruck standhalten. Ganz im Sinne unseres inneren Kompasses, den Menschen Zugang zum Recht einfach, digital und nachhaltig zu ermöglichen.

 

Neue Technologien wie Blockchain und KI werfen auch rechtliche Fragen auf, beispielsweise im Hinblick auf Datenschutz oder Haftungsfragen. Wie reagiert die Branche auf diese Herausforderungen? Gibt es bereits Strategien, um rechtlichen Problemen, die durch den Einsatz dieser Technologien entstehen könnten, vorzubeugen?

 

Die Rahmenbedingungen setzen hier ja die Gesetzgeber, in Brüssel oder Berlin. Da sich die weltweite Dynamik rund um KI so entfacht, besteht die Gefahr, dass die Regulatorik noch schlechter Schritt hält als bislang schon. Ein z.B. EU AI Act könnte also von Fakten überholt werden, die sich durch die Megaakteure USA und China für die weltweiten Märkte etablieren. Große Unternehmen verfügen natürlich über Strukturen in ihren Abteilungen und durch ihre Fachleute, mit deren Hilfe sie diese Themen identifizieren, Lösungen erarbeiten und einer schnellen Umsetzung zuführen können. Gleichwohl dürfte der Megatrend Cyber auch im Hinblick auf das Thema Crime zu einem sehr relevanten Spielfeld auch für Lösungsbedarfe werden, die Versicherer anbieten, sei es haftungsrechtlich, betriebssichernd oder einfach auch nur rechtlich.

 

Vielen Dank für das Interview.

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