Sextherapie: Wenn zwanghafte Selbstbefriedigung den Job beeinträchtigt

Interview mit Nadja Hummer
Für die gesunde Beziehung zur eigenen Sexualität gilt immer die Strategie, herauszufinden, welche Sexualität jeder eigentlich leben möchte.

Wir sprechen heute mit Nadja Hummer, Systemische Sexual- und Paartherapeutin, über zwanghafte Selbstbefriedung und die Beeinträchtigung im Alltag.

 

Welche Anzeichen oder Symptome könnten darauf hinweisen, dass zwanghafte Selbstbefriedigung zu einem Problem wird, das sich auf den Job oder den Alltag auswirkt?

Häufig kommen die Klienten zu mir in die Onlinepraxis und berichten davon, dass Sie ein zunehmendes sexuelles Verlangen an sich selber wahrnehmen. Dieses äußert sich nicht selten im übermäßigen Konsum von pornografischem Material im Internet. Immer mehr Arbeits- und Alltagszeit wird darauf verwendet, die Sucht zu stillen, sei es online oder auch durch erotische Magazine und Tagträume. Sich erotisch aufzuladen ist nur die eine Seite der Medaille, die andere ist die daraus resultierende Selbstbefriedigung. Symptome sind wachsende Konzentrationsschwierigkeiten, Nervosität, Schlafmangel und die daraus folgende Müdigkeit, Antriebslosigkeit für andere Aktivitäten z.B. mit der Familie, Gereiztheit, wenn kein Rückzugsort für die Selbstbefriedigung zur Verfügung steht und viele andere. Auch körperliche Problematiken können auftreten, wie z. B. Hautreizungen, Schmerzen oder Verletzungen an den Genitalien, welche durch das häufige masturbieren entstehen können. Wir sprechen hier ja nicht von 2 – 3 x Selbstbefriedigung am Tag, eine zwanghafte Selbstbefriedigung wird häufig zu einer Sexsucht und dann sprechen wir über 30 – 40 Selbstbefriedigungen am Tag.

 

Es gibt einen Fragebogen (siehe PDF) mit dem Sie gerne einmal testen können, ob Sie gefährdet sind, hypersexuell zu sein.

https://www.researchgate.net/profile/Verena_Klein2/publication/329184145_Hypersexual_Behavior_Inventory_-_German_translation/data/5bfbcf0fa6fdcc53881aecba/HBI-German-Version.pdf

 

Welche Rolle spielt Scham oder gesellschaftliche Tabuisierung bei der Suche nach therapeutischer Hilfe in solchen Fällen?

Die Rolle der gesellschaftlichen Tabuisierung ist enorm. Der Klient hat mit seiner Sexualität bereits ein so großes, für ihn nicht selber lösbares, Problem, dass die gesellschaftliche Tabuisierung dazu führt, dass er in eine völlige Abwärtsspirale gerät. Erst kürzlich unterhielt ich mich mit einer anerkannten Psychotherapeutin darüber, dass Psychotherapeuten nicht für eine Sexualtherapie ausgebildet werden. Wir Sexualtherapeuten jedoch in kaum einem Netzwerk gelistet werden, weil wir diesen Beruf zwar in vielen, dutzenden Lehrgängen, über viele Jahre hinweg, gelernt haben, jedoch kein Studium vorweisen können. Gelistet wird man jedoch nur, wenn ein Studium vorgewiesen werden kann. Wenn man nicht gelistet wird, kann der hilfesuchende Klient keinen passenden Therapeuten finden. Ein Psychotherapeut wird von der Krankenkasse bezahlt, ein Sexualtherapeut muss aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Selbstverständlich gibt es auch Psychotherapeuten, die eine Zusatzausbildung als Sexologe absolviert haben, doch leider ist das noch die Minderheit. Soll heißen, der Klient befindet sich in einer absoluten Notlage, ist voller Scham und muss um Hilfe bitten. Dort, wohin er von den bekannten Stellen verwiesen wird, kann man ihm nicht helfen. Er muss sich sehr bemühen, einen passenden Therapeuten zu finden, was sein Empfinden, etwas schambehaftetes, tabuloses zu tun, nur noch verstärkt.

 

Wie gehen Sie als Therapeutin mit Betroffenen um, die sich möglicherweise schwer tun, offen über dieses Thema zu sprechen?

In erster Linie verständnisvoll. Die Betroffenen haben sich ihre zwanghafte Sucht nach Selbstbefriedigung nicht herbeigewünscht. Sie ist über Monate, wenn nicht Jahre entstanden und macht den Betroffenen hilflos und hilfesuchend. Die Systemische Sexualtherapie ist eine Fokusbildung, ich versuche den Kern der Problematik herauszufinden und arbeite nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Ich traue dem Klienten immer mehr zu, als er sich selber. Ein verunsicherter Klient traut sich nicht zu, seine Krise zu meistern. Ich arbeite mit seinen Ressourcen und zeige ihm, über wie viele Möglichkeiten er verfügt.

 

Welche Schritte oder Ansätze können helfen, zwanghaftes Verhalten zu verstehen und langfristig zu verändern?

Zuerst einmal muss der Betroffene akzeptieren, dass er unter einem zwanghaften Verhalten leidet. Häufig fühlt er „da ist was, das muss weg, das passt nicht in mein Leben, das ist so nicht normal“, aber das es sich um eine Sucht handelt, ist schwer zu akzeptieren. In der Therapie arbeiten wir die Bereitschaft, dieses Verhalten ändern zu WOLLEN heraus. Der Klient muss bereit sein, für die Veränderung etwas zu tun, auch über einen längeren Zeitraum. Es gibt nach jeder Sitzung Hausaufgaben, Dinge, die der Klient an sich und seinem täglichen Verhalten beobachten soll. Wieder andere Hausaufgaben, in denen der Klient die Selbstbefriedigung auf andere Art und Weise ausführen soll usw.. Es gibt nicht das eine Rezept für den einen Norm-Klienten. Jede Sexsucht hat andere Trigger und einen anderen Kern, dementsprechend unterschiedlich ist auch die Therapie.

 

Wie beeinflusst der moderne Zugang zu Pornografie die Häufigkeit oder Intensität solcher Probleme? Gibt es hier eine Verbindung zu anderen psychischen Belastungen?

Diese Frage beantwortet sich fast schon von allein. Enorm viele Menschen haben überall und zu jederzeit unbegrenzten Zugriff auf Pornografie im Internet. Die Schwelle, des „soll ich mir das ansehen oder nicht“, wird bereits im sehr jungen Alter überschritten. Alle machen es, dann kann ich das auch. Grundsätzlich möchte ich Pornografie keineswegs verurteilen, häufig hilft sie Menschen, die an sexueller Unlust leiden und wird sogar als therapeutisches Mittel eingesetzt.

 

Das Problem mit Pornografie entsteht erst, wenn es zu einer Sucht kommt. Eine Sucht kann aus anderen psychischen Belastungen entstehen und zum Stress- und Spannungsabbau benutzt werden. Der Kreislauf von immer größer werdendem Schuld- und Schamgefühl entsteht, dadurch muss immer mehr Stress abgebaut werden. Die Zwanghaftigkeit ist vorprogrammiert.

 

Welche Strategien oder Methoden setzen Sie ein, um betroffenen Personen zu helfen, gesunde Beziehungen zu ihrer Sexualität und ihrem beruflichen Umfeld aufzubauen?

Für die Frage, wie eine Person eine gesunde Beziehung zur ihrem beruflichen Umfeld aufbauen kann, bin ich weniger die richtige Ansprechperson, hier gibt es vermutlich hunderte von Job-Coaches, die dafür das bessere Repertoire haben.

Für die gesunde Beziehung zur eigenen Sexualität gilt immer die Strategie, herauszufinden, welche Sexualität der Klient eigentlich leben möchte. Vielleicht ist er ja sogar völlig glücklich mit der von ihm gelebten Sexualität und es wird ihm nur durch sein Umfeld (Eltern, Partner, Freunde, Medien) suggeriert, dass etwas mit seiner Sexualität nicht in Ordnung ist. Immer natürlich vorausgesetzt, es handelt sich bei seiner gelebten Sexualität nicht um eine strafbare Handlung.

Dann gibt es viele therapeutische Ansätze und Methoden herauszuarbeiten, was der Klient wirklich benötigt und wie er dorthin kommt.

 

Vielen Dank, für das Interview.

Interview teilen: 

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp
No related posts found for the provided ACF field.

Zum Expertenprofil von Nadja Hummer

Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter diesem Link:

Weitere Interviews

die neusten BTK Videos