Wenn man sich die Markenführung der letzten Jahre, vor allem viele Kampagnen angesehen hat, dann dürfte es in vielen Fällen vor allem um Themen wie Purpose, Haltung, gesellschaftliche Verantwortung, Stärkung der Demokratie und Nachhaltigkeit gegangen sein. Auf der Strecke blieb dabei oft die Marke selbst, deren Positionierung und auch deren Nutzen für die Kunden und genau das sollte nicht passieren.
Von Michael Brandtner
Speziell in und mit der Corona-Krise zeigten viele Studien, dass es in der Markenführung verstärkt um Verantwortung, Engagement und damit auch um gesellschaftliche Themen gehe. Dabei gingen manche Experten soweit, dass sie diese Themen sogar über die Positionierung und Differenzierung einer Marke stellten. Übersehen wurde dabei, dass man so nicht nur die Marken aus Kundensicht schwächte, sondern oft sogar die Glaubwürdigkeit der Marken untergrub.
Dazu sollten wir einen Blick auf die „Meaningful Brands“-Studie von Havas werfen, die kürzlich, also Ende 2024 veröffentlicht wurde. Diese Studie zeigte – vor allem auch für Deutschland – klar, dass Marken wieder weniger auf Haltung, sondern auf einen klaren Nutzen für die Konsumenten setzen sollten. Rund drei Viertel der Befragten gaben dabei sogar an, es satt zu haben, dass Marken so tun würden, als ob sie sich für das Wohl der Gesellschaft einsetzen, während sie nur Geld verdienen wollen.
Die totale Überforderung
Um das Ganze besser zu verstehen, sollten wir uns die Markenwelt einmal aus Kundensicht ansehen. Hier herrschte und herrscht die totale Überforderung. So schrieben die Positionierungsexperten Al Ries und Jack Trout bereits 1981 in ihrem Bestseller „Positioning: The Battle for Your Mind“ von der überkommunizierten Gesellschaft und deren Herausforderung für die Markenführung..
Nur was Al und Jack damals als überkommunizierte Gesellschaft ansahen, war maximal das Aufwärmtraining für heute. Heute leben wir analog und vor allem digital in einer über-über-überkommunizierten Gesellschaft. Damit steigt aber auch enorm das Risiko, dass Marken in der Menge der Marken einfach sang- und klanglos untergehen.
Dieses Risiko erhöht sich natürlich enorm, wenn die Markenbotschaften sich zudem durch ähnliche Trends in der Kommunikation ähnlicher werden. Speziell gefährlich wird es, wenn die Markenbotschaft zwar für die Gesellschaft in Summe relevanter sein soll, gleichzeitig aber die Marke in der echten Kaufentscheidung, wenn es also wirklich um den Kauf des Produktes oder der Dienstleistung geht, weniger relevant wird.
Der wahre Job einer Marke
Dazu sollten wir uns den wahren Job der Marke ungeschönt ansehen: Sie denken Smartphone! Sie denken iPhone oder Samsung Galaxy. Sie denken Suche im Internet. Sie denken an Google und vielleicht noch an Bing. Sie denken Schokolade. Sie denken an Milka oder Ritter Sport. Sie denken an Kinder und Schokolade. Sie denken an Kinderschokolade. Sie denken an Cola. Sie denken an Coca-Cola. Sie denken an Energydrink. Sie denken an Red Bull.
Starke Marken sind für unser Gehirn Denkabkürzungen, die uns Kaufentscheidungen leichter machen. Im Idealfall verschmelzen dann im Gehirn Kaufentscheidung und Marke. Aus Videostreaming wird dann Netflix, aus Musikstreaming Spotify, aus Brille Fielmann oder aus Fernbus Flixbus.
Das heißt: Wirklich starke Marken sind nicht nur bekannt, sondern sind die erste Wahl bei einer spezifischen Kaufentscheidung. Um das Ganze aber aus Markensicht noch besser zu verstehen, sollten wir uns drei Arten von Märkten aus der Kunden- oder besser sogar Wahrnehmungsperspektive einmal ansehen.
Drei Arten von Märkten
Das heißt: Aus Markensicht sollte man unbedingt drei Arten von Märkten unterscheiden, nämlich:
(1) Geordnete Märkte: Nehmen Sie den Markt für Smartphones. Sie denken an Smartphone. Sie denken an iPhone, Samsung Galaxy und vielleicht noch an ein paar andere Marken oder Anbieter. Das heißt: Mental gesehen wird das iPhone als Marktführer und das Samsung Galaxy als erster Herausforderer wahrgenommen. Hier gibt es eine klare Rangordnung.
(2) Teilgeordnete Märkte: Nehmen Sie den Markt für klassische PCs (ohne Apple). An welche Marken denken Sie? Wahrscheinlich an HP, Lenovo, Dell und vielleicht Acer. Wer aber ist Marktführer? Wer ist die Nummer 2? Hier gibt es zwar Marken in der Wahrnehmung, aber keine klare Rangordnung mehr.
(3) Ungeordnete Märkte. Nehmen Sie den Markt für Videobeamer. Welche Marken fallen Ihnen ein und wer ist Marktführer? Hier lautet mit Sicherheit die häufigste Antwort: „Keine Ahnung!“ Hier gibt es damit weder Markennamen noch eine Rangordnung.
Diese Unterscheidung ist deshalb so wichtig, weil mentale Ordnung und die Wirksamkeit des Erfolgsprinzip Marke in Summe eng zusammenhängen.
Mentale Rangordnung und Kaufentscheidung
Das heißt im Detail: Je ausgeprägter die Rangordnung in den Köpfen der Kunden bei einer Kaufentscheidung ist, desto stärker und wichtiger ist die Marke als Einkaufskriterium. Je weniger ausgeprägt die Rangordnung ist, desto mehr gewinnen andere Faktoren wie Produkteigenschaften oder Empfehlungen, vor allem aber auch der tiefe Preis an Bedeutung.
Die Konsequenz daraus: Bevor man sich mit der Positionierung der eigenen Marke im Detail auseinandersetzt, sollte man zuerst einmal unbedingt den Markt aus Sicht dieser mentalen Rangordnung analysieren und verstehen. Dabei geht es a) darum, dass man zuerst einmal feststellt, wie geordnet oder auch wie ungeordnet der eigene Markt ist, und dann b) darum, welche Rolle die eigene Marke in dieser Ordnung oder auch Unordnung aktuell einnimmt. Erst nach diesen beiden Schritten sollte man darauf aufbauend über die zukünftige Ausrichtung der eigenen Marke nachdenken.
Nie mit der eigenen Marke starten
Das heißt aber auch, so paradox es für manche klingen mag, dass man nie mit der eigenen Marke starten sollte, wenn man über deren Positionierung oder Neuausrichtung nachdenkt. Vielmehr sollte man immer mit dem mentalen Kontext starten, in dem sich die eigene Marke bewegt.
Basierend darauf, also basierend auf dem mentalen Kontext sollte man dann die eigene Positionierung und Positionierungsstrategie festlegen. Dabei ist es auch ganz entscheidend, welchen Beitrag die eigene Marke in Bezug auf mentale Rangordnung leisten kann und sollte. Wer aber bei der Entwicklung der eigenen Marken- und Positionierungsstrategie genau das nicht berücksichtigt, darf sich nicht wundern, wenn die eigene Marke bestenfalls auf dem Papier positioniert ist.
Ein Extrembeispiel aus Österreich
Um das Ganze noch besser zu verstehen, sollten wir uns ein „Extrembeispiel“ aus Österreich ansehen. Dazu machen wir einen Markenausflug in das Jahr 1999. Auf dem Papier war damals die Marke Kika der klare Marktführer im österreichischen Möbelhandel. In der Wahrnehmung der Kunden aber gab es keinen eindeutigen Marktführer. So tippten laut Marktforschungsergebnissen manche auf Kika, andere auf die Marke Leiner, wieder andere auf Ikea oder Lutz oder manche sogar auf die damaligen regionalen Marktführer Möbel Ludwig, Michelfeit, Gröbl Möbel oder Braunsberger.
Genau in einer solchen Situation der mentalen Unordnung sollte der tatsächliche Marktführer unbedingt seine Marktführerschaft in der Kommunikation klarstellen. Wenn er es nicht tut, erlaubt er es einem cleveren Konkurrenten diese Situation zu nutzen. Genau das machte der Herausforderer XXXLutz, indem man sich in der Werbung frech und selbstbewusst als Marktführer präsentierte. (Dabei bezog sich zu Beginn diese Größe und Marktführerschaft flächenmäßig auf einziges Möbelhaus von Lutz in Wien.)
Brillant war dabei nicht nur der Name XXXLutz, der alleine schon Größe in der Wahrnehmung suggeriert, sondern auch die Langzeitkampagne mit der Familie Putz und dem Slogan „Was der alles hat“. Heute ist XXXLutz der klare Marktführer in Österreich, sowohl in den Marktanteilsstatistiken als auch in der Wahrnehmung der Kunden. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite verschwand die Marke Kika samt ihrer Schwestermarke Leiner kürzlich für immer vom Markt.
Das mentale Chaos nutzen
Das heißt aber auch: Diese überkommunizierte Gesellschaft, die für immer mehr mentales Chaos sorgt, ist nicht nur Risiko für viele Marken, sondern oft auch eine große Chance, wenn man diese strategisch und operativ richtig nutzt. Das gilt natürlich auch für die Welt der Dienstleistungen.
Um die Jahrtausendwende war Edelman PR die fünftgrößte PR-Agentur in den USA. Das ist aus Positionierungssicht maximal die fünftbeste Position, die man haben kann. Aber bei Edelman erkannte man, dass man die größte Eigentümer-geführte PR-Agentur war. Die anderen vier Agenturen in den Top 5 waren Netzwerkagenturen.
Mit dieser Idee „Eigentümer-geführt“ baute man sich eine eigene mentale Markt-führerschaft als Basis auf. Damit stieg man zuerst zur führenden PR-Agentur in den USA auf. Heute ist Edelman sogar die größte PR-Agentur der Welt. Was Edelman dabei – mental gesehen – sehr entgegenkam, war, dass sich niemand anderer als die größte PR-Agentur der Welt „outete“. Damit entstand der mentale Eindruck, dass es mehrere große PR-Agenturen, aber nur einen Marktführer, nämlich Edelman gab.
Was Radeberger tun könnte
Seit kurzem setzt man bei Radeberger Pilsener auf den Slogan „Auf die Leidenschaft“. Damit ist man auf der einen Seite in guter Gesellschaft. Alleine auf Slogan.de findet man bereits 475 Slogans mit dem Stichwort „Leidenschaft“. Auf der anderen Seite ist so die Chance sehr gering, dass man sich mit dieser Art von „leidenschaftlichem Slogan“ wirklich nachhaltig und positiv von den knapp über 1.450 anderen Brauereien in Deutschland unterscheidet.
Aber genau hier könnte man aus Markensicht ansetzen, um klarzustellen, dass es in Deutschland über 1.450 Brauereien gibt, aber nur eine Original-Pilsbier-Brauerei, nämlich Radeberger. Damit würde man mental zwei Dinge erreichen: (1) Man würde eine eigene mentale Ordnung schaffen. (2) Wie wir aus der Psychologie wissen, schätzen Menschen Originale höher ein als Kopien. Das gilt nicht nur in der Kunst oder Musik, sondern auch bei Marken. Radeberger könnte sich so wirklich eine einzigartige und positive Spitzenstellung schaffen.
Positionierung, mentale Ordnung und echte Markenrelevanz
Das heißt: Themen wie Purpose, Haltung, Engagement und gesellschaftliche Relevanz sind natürlich wichtig und werden uns auch weiterhin begleiten. Nur als Basis sollte man unbedingt zuerst sicherstellen, dass man für die Kunden wirklich bei konkreten Kaufentscheidungen relevant ist. Denn eines sollte jeder und jedem klar sein. Wenn eine Marke heute keine klare Positionierung in den Köpfen der Kunden besitzt, die auch wirklich für diese relevant ist, braucht man sich über kurz oder lang mit Sicherheit keine Sorgen um deren gesellschaftliche Relevanz machen.
So gesehen sollte man vielleicht dieses Frühjahr nutzen, um zuerst den eigenen Markt aus Sicht des mentalen Kontexts zu analysieren, und um dann darauf aufbauend die eigene Marke und deren Positionierung im mentalen Kontext auf den Prüfstand zu stellen. Dies kann nicht nur komplett neue Perspektiven in der Markenführung eröffnen, sondern auch kurz-, mittel- und langfristig zu einer stärkeren Positionierung führen, die dann einen wesentlichen Beitrag zur Wertschätzung und Wertschöpfung der eigenen Marke und damit des eigenen Unternehmens leistet.
Markenstratege Michael Brandtner ist Österreichs führender Markenpositionierungsexperte und Associate of Ries Global. Zudem ist er Autor der Bücher „Markenpositionierung im 21. Jahrhundert“, „Radikale Markenfokussierung“ und ganz aktuell „Siegermarken“. Sein Blog: www.brandtneronbranding.com