Auf den ersten Blick hat Julian Assange, der redaktionell Verantwortliche der Whisteblowing-Plattform Wikileaks, der nun seit vielen Jahren in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis sitzt, nicht viel mit unserer Lebensart und unserem Alltag zu tun. Doch wer den Fall Assange so genau wie Reporter ohne Grenzen beobachtet, der kommt schnell zu dem Schluss: Das Schicksal des Australiers und die Entwicklung unseres demokratischen Lebensgefühls und unserer freiheitsliebenden Kultur in Europa sind auf vielschichtige Weise miteinander verbunden.
Die aktuellen Hintergründe: Ende März wurde die Entscheidung über eine Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange an die USA vom obersten britischen Gerichtshof erneut vertagt. Der Londoner High Court lehnte den Berufungsantrag von Assange zwar in sechs von neun Punkten ab. Erklärt wurde jedoch auch, dass er in drei weiteren Punkten eine „reelle Aussicht auf Erfolg“ habe.
Hier bezieht sich das Gericht auf seine mögliche Gefährdung in den USA durch die Todesstrafe und auf die Frage, ob er sich bei einem Verfahren in den USA auf das Recht auf Meinungsfreiheit berufen könnte, das im ersten Zusatzartikel zur Verfassung der USA als Grundrecht festgeschrieben ist, aber aus Sicht der USA für Assange, der selbst kein US-Bürger ist, nicht unbedingt gilt. Seine Berufung wird jedoch nicht zugelassen, wenn die US-Regierung „zufriedenstellende Zusicherungen“ gibt, die diese Hindernisse für eine Auslieferung beseitigen. Dafür hatte sie nun Zeit bis zum 16. April. Bis zum 20. Mai wird die britische Justiz nun prüfen, ob sie die neuen diplomatischen Zusicherungen der USA für ausreichend hält.
Doch warum setzen sich Reporter ohne Grenzen und andere Menschenrechtsorganisationen so für die umstrittene Persönlichkeit Julian Assange ein? Es gehört zur journalistischen Arbeit, auch als geheim eingestufte Informationen zu veröffentlichen, wenn sie von öffentlicher Bedeutung sind. Kriegsverbrechen aufzudecken und über von Staaten verübtes Unrecht kritisch zu berichten, ist von der Pressefreiheit gedeckt. Die Veröffentlichung der geleakten Geheimdokumente durch Wikileaks war die Grundlage für eine weltweite Berichterstattung über Kriegsverbrechen der USA. Inzwischen hat das Beispiel Schule gemacht. Dass bei großen Recherchen Redaktionen international kooperieren und Informationen gemeinsam auswerten, wie später zu den Panama- oder Paradise-Papers, ist mittlerweile fast selbstverständlich geworden.
Doch anstatt die Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, die die USA im Irak-Krieg begangen hat, sitzt Julian Assange auf der Anklagebank. Assange wäre im Fall seiner Auslieferung der erste Publizist, der nach dem US-Spionagegesetz verurteilt wird. Dieses über einhundert Jahre alte Gesetz erlaubt es den Angeklagten nicht einmal, zu ihrer Verteidigung vorzubringen, sie hätten im öffentlichen Interesse gehandelt – was bei Assange eindeutig der Fall war.
Niemand sollte mit der Möglichkeit einer lebenslangen Haftstrafe oder sogar der Todesstrafe konfrontiert werden, nur weil er Informationen im öffentlichen Interesse herausgibt. Aber noch ist es nicht zu spät: Das Vereinigte Königreich muss jetzt handeln, um die Pressefreiheit zu schützen, indem es Assange nicht ausliefert, sondern ihn sofort freilässt – und damit einen historischen Schlag gegen die Pressefreiheit abwendet.
Denn Assanges Verurteilung würde das Signal aussenden, dass Medien und Berichterstattende, die im öffentlichen Interesse berichten, jederzeit staatliche Verfolgung befürchten müssen. Der Australier wurde auf europäischem Boden festgesetzt. Investigative Reporterinnen und Reporter sollen anscheinend begreifen, dass der lange Arm der USA sie überall auf der Welt erreichen kann. Und das, obwohl das Veröffentlichen von geheimen Regierungsinformationen ein Kerngeschäft des investigativen Journalismus ist. Eigentlich müssten die USA ihre Anklage schlichtweg fallenlassen.
Brisant ist der Fall auch vor dem Hintergrund der anstehenden US-Wahlen. Denn Kandidat Trump hat bereits angekündigt, dass er unliebsame Medienschaffende, die geleakte Informationen publizieren, einsperren will.
Auch wir in Europa müssen weiterhin um die Pressefreiheit in unseren Demokratien kämpfen. Denn die Pressefreiheit gehört zum Kernbereich der Menschenrechte. Und sie ist ein Gradmesser dafür, wie frei und selbstbestimmt man in der eigenen Gesellschaft leben kann. Es ist kein Zufall, dass es in Diktaturen, die kontroverse öffentliche Diskussionen und individuelle Selbstbestimmung nicht zulassen, auch niemals eine freie Presse gibt.
Am 3. Mai, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit, wird Reporter ohne Grenzen wieder die jährlichen Updates zur Rangliste der Pressefreiheit veröffentlichen. Sie spiegelt die Situation von Journalistinnen, Journalisten und Medien in 180 Ländern und Territorien wider. Das Vergleichsinstrument macht deutlich: Wer kritisch über die Mächtigen berichtet, ist an vielen Orten der Welt in großer Gefahr. Und der Weg ins Londoner Sicherheitsgefängnis Belmarsh kann kürzer sein als man glaubt.
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Autorin/Bild – Katharina Weiß (Pressereferentin Reporter ohne Grenzen)